Du bist ein Gott, der mich sieht.
Liebe Gemeinde,
ich bin immer wieder fasziniert und erstaunt darüber, wie viele Dialekte es in Deutschland allein gibt. Wie unterschiedlich die alle klingen, welch interessante und eigenartige Vokabeln und Begriffe darin vorkommen, und wie identitätsstiftend das sein kann. Menschen fühlen sich zu Hause, ja zugehörig, wenn sie miteinander im regionalen Dialekt reden.
Ich habe im Studium einige Zeit in Leipzig verbracht und ein wenig Sächsisch gelernt, dann in Tübingen, wo man Schwäbisch schwätzt, und in Oberursel, wo man Hessisch babbelt. Alles sehr interessant. Und meine Vorfahren, die aus der Lüneburger Heide stammten, die snackten alle Plattdütsch.
Interessant finde ich auch, wie unterschiedlich man sich begrüßt. In Bayern sagt man „Servus“, im hohen Norden „Moin moin“, in Hessen „iGude“. Und das hat immer auch eine Bedeutung: „Servus“ zum Beispiel kommt vom Lateinischen „Sklave“ und meint so etwas wie: „Zu Diensten!“ Und „Moin“ heißt nicht „Morgen“, sondern kommt vom Plattdeutschen „moi“ und bedeutet „angenehm“ oder „gut“.
In meiner südafrikanischen Heimat (wo es ebenfalls eine große Vielfalt an unterschiedlichen Sprachen und Dialekten gibt), grüßt man sich auf Zulu mit „Sawubona.“ Das bedeutet: „Ich sehe dich.“ Meine ganze Aufmerksamkeit gilt dir! Ich sehe dich, ich sehe deine Stärken und Schwächen. Ich akzeptiere dich für das, was du bist, und du bist ein Teil von mir.
Auf diese Begrüßung antwortet man dankbar mit „Shiboka“, was bedeutet, “Dann existiere ich für dich”.
Gesehen werden, wahrgenommen werden, ernst genommen werden, das sind Grundbedürfnisse des Menschen. Nicht nur dann, wenn man großes geleistet hat und sich gut fühlt, sondern gerade dann, wenn es einem nicht gut geht und man Hilfe braucht. Da möchte ich gesehen werden.
So, wie es damals der schwangeren Hagar ging, als sie auf der Flucht war. Das ist der Kontext dieses Verses, der für 2023 als Jahreslosung ausgewählt wurde: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ich verlese dazu einmal Kapitel 16 aus dem 1. Mosebuch:
Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte.
Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der Herr sei Richter zwischen mir und dir. Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. Aber der Engel des Herrn fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.
Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört. […] Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.
Hagar, die schwangere, befindet sich auf der Flucht. Ein Engel fragt sie: Woher kommst du? Wo willst du hin? Sie kann nur auf die erste Frage antworten: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. Auf die zweite Frage, auf die nach der Zukunft, nach ihrem Ziel, weiß sie nichts zu sagen. Ihre Wirklichkeit kennt keine Möglichkeit. Nicht mehr. Noch nicht. Sie steckt fest.
Wie die Menschen auf der Flucht, die irgendwo zwischen Serbien und Ungarn, im Libanon oder in Jordanien, auf einer griechischen Insel oder in Italien oder hier bei uns in den langen Verfahren feststecken. Woher sie kommen, das wissen sie. Wie es weitergeht mit ihnen, wo sie hinwollen dürfen, das wissen sie oft nicht…
Die biblische Geschichte verdichtet diese Fluchterfahrung in wenigen Worten. Und konzentriert sie ganz auf diese schwangere Frau. Ich bin geflohen. Ich weiß nicht wohin.
Wenn schon sonst niemand – Gott naht sich ihr! Darum geht es hier! Er sieht sie, genau die, die aus dem Blick aller anderen verschwunden ist. Für Abram und Sarai war die Schwangere aus den Augen, aus dem Sinn. Aber Gott hat seine Augen nicht von ihr genommen.
„Du wirst ein Kind gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen.“ Das kommt uns bekannt vor! Fast wortgleich sagt das der Engel auch der jungen Maria: Du wirst schwanger werden, einen Sohn gebären und sollst ihm einen Namen geben: Jesus.
Mit dem Namen ändert sich plötzlich alles. Hagar weiß: Wer einen Namen hat, hat Zukunft! Wer einen Namen hat, wird unter die Lebendigen gezählt! Wer einen Namen hat, gehört dazu! Ist vom No-body zum Some-body geworden!
Darauf reagiert Hagar und legt sich auf ihren Namen für Gott fest: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ So nennt sie ihn! „El-Roi“ auf Hebräisch, kurz und bündig. Du bist ein Gott, der mich sieht, der mich wahrnimmt, der mich nicht allein lässt, der meine Stärken und Schwächen erkennt, der weiß, wenn ich in Not bin und Hilfe brauche.
Ich staune immer über die biblischen Geschichten, die uns erzählen, wie konsequent der liebende Gott sich den Menschen zuwendet. Am liebsten denen, die am Rand stehen. Die verschwunden sind, vergessen wurden, von denen wir keine Namen wissen und nie einen erfahren werden. Er sieht sie.
Und, er sieht dich und er sieht mich. Gerade an der Schwelle zum neuen Jahr, da tut es gut, genau das zu hören. Wir haben im vergangenen Jahr 2022 vieles durchmachen müssen – im Kollektiv und im Einzelnen. Gott hat uns dabei nie aus den Blick verloren! Und auch im Jahr 2023, das voller Möglichkeiten vor uns steht, das mit Freud und Leid, mit Höhen und Tiefen unweigerlich auf uns zukommt, auch in diesem Jahr wird er uns nicht aus den Augen verlieren!
Er sieht, was dir gelingt, und freut sich mit dir. Er sieht, was dir nicht gelingt, und schenkt dir seinen Beistand. Er sieht deine Sünde, und vergibt sie dir. Er sieht deine Einsamkeit, und schenkt dir seine Gegenwart. Er sieht deine Trauer, und schenkt dir seinen Trost. Er sieht dein Kreuz, das du zu tragen hast, und packt mit an. Du bist ein Gott, der mich sieht!
Wir dürfen heute dankbar antworten: „Shiboka!“ - “Dann existiere ich für dich”. Wir existieren für Gott. Wir sind ihm wichtig. Er nimmt uns an mit allen Stärken und Schwächen. Er sieht uns, er sieht unsere Not, er sieht unsere Bedürfnisse. Seine Augen werden uns geleiten, auch im neuen Jahr. Shiboka!
Pastor Roland C. Johannes
Januar 2023