Warum sollt ich mich denn grämen? Hab ich doch Christus noch, wer will mir den nehmen? Wer will mir den Himmel rauben, den mir schon Gottes Sohn beigelegt im Glauben?
Liebe Brüder und Schwestern,
das Lied „Warum sollt ich mich denn grämen“ trägt im Original die Überschrift: „Christliches Freudenlied“. Ein Freudenlied ist bei Paul Gerhard, den man den „Botschafter der Freude“ genannt hat, nichts Ungewöhnliches. „Fröhlich soll mein Herze springen“, heißt es zu Weihnachten, „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ zu Ostern. Und selbst bei der Betrachtung des Leidens Christi drängt es Paul Gerhard zu sagen: „Es dient zu meinen Freuden und tut mir herzlich wohl…“
Es ist eine Sache, angesichts der Weihnachts- und der Osterbotschaft zur Freude zu ermuntern. Es ist aber was ganz anderes, diese Freude im alltäglichen Leben durchzuhalten. Ihr werdet mir sicherlich Recht geben. Im Alltag der Verlassenheit und des Streites, der Krankheit und des Todes, des Krieges und der Pandemie, da ist uns weniger danach zumute, ein fröhliches „Halleluja!“ zu singen. Vielmehr erklingt ein trauriges und enttäuschtes „Warum?“ Warum habt ihr mir das angetan? Warum musste das gerade mir geschehen? Warum hat Gott das zugelassen? Ihr kennt die Fragen…
Gott sei Dank, wir dürfen so fragen und klagen! Die Psalmen tun es ja auch. So in Psalm 42: „Warum hast du mein vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?“ Oder, wie Jesus es so eindringlich betet, aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Warum?
Wir wollen sehen, ob Paul Gerhard uns heute morgen aus dem grauen Alltag zur Freude führen kann. Ob er Wort hält mit der anspruchsvollen Überschrift „Christliches Freudenlied“.
Wir singen die erste Strophe – 545, Vers 1.
Warum? Paul Gerhard fragt nicht Gott oder die anderen, sondern sich selbst: „Warum?“ Aber er fragt sich: „Warum sollt ich mich denn grämen?“ Kann ich denn ernsthaft so fragen und klagen wie die anderen, die meinen, mit Gott, mit dem Schicksal und den Mitmenschen richten zu können? Ist nicht der, der mein Leben in der Hand hat, auf meiner Seite? Ja „habe“ ich ihn nicht so gewiss, wie ich nur etwas haben kann?
„Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde,“ singt der Psalmist. „Hab ich doch Christum noch“ Paul Gerhard.
Das ist, logisch betrachtet, keine Antwort auf alle die Fragen, die uns bedrängen. Aber logisch befriedigende Antworten werden wir nie darauf bekommen. Die Welt ist nicht aufrechenbar. Und wenn ich die verschlungenen Wege meines Lebens betrachte, werde ich immer ratlos bleiben.
Aber, diese Wege muss ich ja nun gehen – ob ich will oder nicht! Und für Paul Gerhard ist die Frage nun nicht: „Warum soll ich diesen Weg gehen?“, sondern „mit wem gehe ich ihn“? Und so singt er: „hab ich doch Christum noch“ – und mit ihm die Hoffnung, ewig bei ihm sein zu können! Niemals allein sein zu müssen! Immer geborgen zu sein, egal, wie die Umstände grad sind! Ist das nicht wunderbar?
Weil mit ihm, mit Christus, hat dieser Weg ein Ziel! Dieses Ziel ist der Himmel, den keiner mir rauben kann! Dieser verschlungene Lebensweg, der oft steinig ist, der mir so viel Sorgen und Kummer bereitet, er hat ein Ziel. Es ist nicht umsonst!
Wir singen nun die Verse 2 – 6.
Wer Christus so gefunden hat, wer so singen kann, der hat eine große Befreiung erlebt! Ihn irritieren nicht die Ansprüche auf Glück und Wohlstand, auf Recht und Besitz, auf Erfolg und Anerkennung. Ihn können „Kreuz,“ „Angst und Pein“, Krankheit, eigenes Versagen, Enttäuschungen an den anderen Menschen und an sich selbst, Angst vor der Zukunft nicht irremachen! Er versucht nicht seinen vermeintlichen Anspruch auf Glück, auf „Qualität des Lebens“ einzuklagen. Er ist befreit von der Angst, auch der Angst vor anderen, vor den Übermächtigen, die ihn von Gott abziehen wollen. Es gibt nur eine Gewissheit: Gott wird letztendlich das zerstören, was mich von ihm trennen will. „Lass sie spotten, lass sie lachen! Gott, mein Heil, wird in Eil sie zuschanden machen.“
Wir singen die Verse 7 – 10.
Wer Christus gefunden hat, wer so singt, zeigt diese Freiheit in der Art, wie er lebt. „Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen.“ „Unverzagt und ohne Grauen“ kann der sein, der seine Existenz nicht auf sich, sondern allein auf Christus gründet. Der Satz „sich lassen schauen“ steht nicht nur da, weil es sich eben reimt! Nein, man sollte an uns Christen etwas mehr Unverwüstlichkeit bemerken können, schon gar nicht jenes ängstliche Zusammenzucken, wenn jemand sich nur räuspert oder die Augenbrauen hochzieht! Paul Gerhard ist der Überzeugung, dass sich diese Unverwüstlichkeit auch dann bewährt, wenn der Mensch an seine absolute Grenze gekommen ist, nämlich an seinen Tod. Und er weiß, wovon er spricht! Paul Gerhard hat nicht nur an den Gräbern von vier Kindern und seiner Frau gestanden. Er hat das große Sterben des 30jährigen Krieges mit Mord, Pest und Hunger erlebt! Er hat Schreckliches durchmachen müssen!
Aber, Paul Gerhard weiß auch, dass dieser Tod selbst seine Grenze gefunden hat, nämlich im Tod Christi. Darum ist für uns der Tod keine absolute, sondern eine durchlässige Grenze. Er ist die Schwelle zum Leben. Wir können nur ahnen, was das heißt. Aber wir wissen, dass von dorther Leben und Tod ein neues Gesicht bekommen: Das „Tor der Leiden“ wird geschlossen, die „Bahn der Freuden“ wird aufgetan. Die „Güter des Lebens“, nach denen wir alle streben – sie sind doch nur „eine Hand voller Sand, Kummer der Gemüter.“ Diese werden abgelöst von den „edlen Gaben“ der Gemeinschaft mit Christus, unvergänglich wie Silber und Gold.
Wir singen die letzten beiden Verse.
Alles drängt dazu, dass das eine, was hält und trägt, nun mit aller Deutlichkeit und Direktheit angesprochen wird. Es ist kein Zufall, dass Paul Gerhard hier in die Form des Gebetes übergeht. Alles gipfelt in der Anrede an Christus selbst. Alle unsere Fragen, Qualen, Sorgen und Ängste sind aufgehoben im Gebet an ihn. Vielleicht können wir die wichtigsten Dinge wirklich nur im Gebet aussagen!
Wir haben alle 12 Verse gesungen. Es ist von „Freude“, von „Gütern des Lebens“, von „edlen Gaben“ die Rede. Aber, es ist auch die Rede von der Bereitschaft zu Leiden und vom Opfer. Ich werde da nachdenklich. Bin ich wirklich bereit, zu leiden? Bin ich bereit, Opfer zu bringen? „Schickt er mir ein Kreuz zu tragen, dringt herein Angst und Pein, sollt ich drum verzagen?“ Ich blicke auf meinen verschlungenen Lebensweg zurück und muss sagen: Ja! Es war manches Kreuz dabei. Vielleicht ist es bei dir ähnlich. Vielleicht machst du in deinem Leben grad Schweres durch. Vielleicht ist dein Weg gerade steinig. Sind wir, sind du und ich bereit, das auf uns zu nehmen?
Ich gehe noch einen Schritt weiter: „Schickt er uns ein Kreuz zu tragen“ – uns als Gesellschaft. Sind wir dazu bereit?
Ich denke, dass wir als Wohlstandsgesellschaft genau an dieser Stelle an unsere Grenzen kommen. Wir können diese Fragen nicht beantworten, weil wir sie noch nie beantworten mussten. Wir hatten alles, und das in Überfluss. Es ging uns gut, ja es geht uns immer noch gut. Vielleicht wird sich das bald ändern, wir wissen es nicht. Vielleicht werden wir im kommenden Winter zum ersten Mal seit über 75 Jahren wieder frieren müssen. Vielleicht werden wir nicht nur gelegentlich auf Mehl oder Öl verzichten müssen, sondern auf vieles mehr. Vielleicht kommt der Krieg doch näher. Wir wissen es nicht.
Ich weiß aber dieses: Wenn das alles so kommen sollte, die schlichte Hoffnung auf Christus wird bleiben. Wird uns tragen. Es wird vielleicht das Einzige sein, was bleibt.
Genau das hat in der Zeit der letzten großen Not hier in Deutschland, vor über 75 Jahren, Dietrich Bonhoeffer erlebt. Er schreibt: „Wenn man in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten mit den Menschen seiner Zeit lebt, dann wirft man sich ganz Gott in die Arme.“ Es ist das Einzige, das bleibt.
Und es ist kein Wunder, dass eins seiner letzten Worte jenes einfältig getroste Lied ist, das so dicht bei Paul Gerhard angesiedelt ist:
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
In diesem Sinne singen wir noch einmal die letzten beiden Verse vom „Christlichen Freudenlied!“
Pastor Roland C. Johannes
Juli 2022