Liebe Gemeinde,
vor euch, auf den Postkarten, seht ihr eine Malerei. Sie stammt vom deutsch-amerikanischen Künstler Gari Melchers, der das Bild im Jahre 1891 schuf. Wir sehen Maria, am Boden liegend, erschöpft von der Geburt des kleinen Jesus; daneben Joseph, betroffen, ja fast überwältigt. Das neugeborene Kind liegt in einer kleinen Krippe auf dem Boden.
Zurückhaltend, gedämpft, ja ruhig ist die Szene.
Die Tür steht offen, noch ist aber keiner da. Maria und Joseph sind mit dem Kind ganz allein. Ich muss gestehen, dass ich dieses Bild liebe! Bevor die Hirten hereinplatzen und von irgendwelchen Engeln reden, bevor irgendwelche Menschen kommen, um den Neugeborenen zu bewundern, bevor der Trubel losgeht: Nur Maria, Joseph und das kleine Kind.
Diese Ruhe berührt mich jedes Mal von Neuem. Weihnachten ist eine Zeit, in der vieles los ist. Wir hetzen uns ab, rennen von A nach B, geben uns Mühe, ein schönes Fest vorzubereiten. Hinzu kommt der Jahresabschluss, der irgendwie noch geregelt werden muss, die Gäste, die womöglich zum Feiern kommen, die Wohnung, die noch geputzt werden muss. Es ist in der Regel eine anstrengende, eine stressige Zeit.
Dabei sind doch diese kleinen Momente, diese kleinen Augenblicke der Ruhe so wichtig, so kostbar. Maria und Joseph sitzen dort in aller Ruhe, staunend. Staune ich noch über dieses Kind in der Krippe? Habe ich eigentlich noch die Muße, einfach mal in Ruhe über diese wundersame Geburt nachzudenken?
Maria und Joseph haben es nicht leicht. Die Umstände, in denen sie sich befinden, sind alles andere als ideal. Wer will schon ein Kind in einem Stall zur Welt bringen? Joseph blickt sorgenvoll drein; wie soll das bloß werden? Ratlos ist er. Überwältigt. Vielleicht sogar etwas verängstigt. Zweifelt er gar?
Vielleicht blickst du in diesem Jahr auch so drein. Es war (wieder einmal) ein Jahr voller Sorgen. Ein Jahr, dass viel Anstrengung gekostet hat. Ein Jahr voller Einschränkungen, voller Entbehrungen. Vielleicht hast du in diesem Jahr mit gesundheitlichen Problemen zu tun gehabt. Vielleicht hast du Trauer erlebt, hast einen geliebten Menschen verloren. Vielleicht warst du einsam. Vielleicht hast du Sorgen um die Zukunft. Vielleicht sorgst du dich, wie das alles mit Corona weitergehen soll; fragst dich, wie wir jemals wieder etwas Normalität zurückgewinnen werden. Vielleicht sorgst du dich um deine Sicherheit. Vielleicht ist dir das alles einfach zu viel.
Ihr Lieben, Joseph und Maria haben große Sorgen. Sie haben Ängste. Sie sind erschöpft. Es ist alles neu und unbekannt. Vor ihnen liegt eine Riesenaufgabe.
Aber: Sie blicken auf das Kind! Sie blicken auf Jesus – auf diesen Jesus, von dem der Engel gesagt hat, dass er „sein Volk von seinen Sünden erlösen wird“ (Mt 1, 21). Er sieht so unscheinbar aus, so hilflos, so klein und zerbrechlich – aber vor ihnen liegt der Messias, der Retter der Welt! Trotz ihrer Not, trotz ihrer Angst: Sie blicken auf das Kind! Voller Glauben, hoffnungsvoll!
Lieber Bruder, liebe Schwester, du wirst heute Abend eingeladen, ebenfalls so auf dieses Kind zu blicken. Auch wenn er so unscheinbar aussieht: Blicke auf dieses Kind! Es ist Gott selbst, der in diese Welt kommt! Es ist Gott, der Mensch wird! Gott, der deine Sorgen und Nöte kennt, deine Trauer und deinen Schmerz! Gott, der weiß, was in dir vorgeht! Es ist Gott selbst, der sich zu dir gesellt, der dein Bruder wird, der dir gleich wird, damit er dich verändern kann. Der dich von deiner Schuld befreit, der dir Frieden schenkt, bereits hier uns jetzt.
Gari Melchers hat diesen Moment der Besinnung wunderbar eingefangen. Seht ihr die Lampe, die neben der Krippe auf dem Boden steht? Sie verblasst! Weil das Licht vom Kind ausgeht! Der Raum wird hell, die Strahlen spiegeln sich in den Kleidern und in den Gesichtern seiner Eltern wider.
Dieses Kind strahlt auch dich an! Hier und jetzt. Trotz allem. Das, ihr Lieben, feiern wir an Weihnachten: Das wir uns zu Maria und Joseph setzen dürfen, so wie wir sind! Mit unseren Sorgen und Nöten, mit unseren Ängsten, mit unserem Zweifel. Wir dürfen uns einfach so dazusetzen. Und, auch wir werden erleuchtet! Auch in unserem Leben wird es hell! „Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein“, dichtet Jochen Klepper.
Es mag nicht danach aussehen. Die äußeren Umstände mögen schlecht sein. Der Stall kalt und dreckig. Dennoch: blicke auf das Kind! Es ist der Messias. Es ist dein Heiland und Erretter! Amen. Amen.
Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Pastor Roland C. Johannes,
Dezember 2021