Herr, du hast dein Land wieder lieb gewonnen
und das Schicksal Jakobs zum Guten wended.
Du hast deinem Volk die Schuld vergeben
und alle Sünden hast du ihm verziehen. Sela.
Du hast deinen ganzen Ärger aufgegeben
und deinen glühenden Zorn verrauchen lassen.
Gott, du bist unsere Hilfe, stell uns wieder her!
Sei nicht länger so aufgebracht gegen uns!
Willst du denn für immer auf uns zornig sein?
Soll sich dein Zorn noch ausdehnen
von der einen Generation auf die andere?
Willst du uns nicht wieder neues Leben schenken?
Dann wird sich dein Volk über dich freuen.
Herr, lass uns doch deine Güte erfahren!
seiner SchritteWir brauchen deine Hilfe, gib sie uns!
Ich will hören, was Gott zu sagen hat.
Der Herr redet vom Frieden.
Er verspricht ihn seinem Volk und seinen Frommen.
Doch sie sollen nicht mehr zurückkehren
zu den Dummheiten der Vergangenheit!
Ja, seine Hilfe ist denen nahe, die zu ihm gehören.
Dann wohnt seine Herrlichkeit wieder in unserem Land:
Güte und Treue finden zueinander.
Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.
Treue wächst aus der Erde empor.
Gerechtigkeit scheint vom Himmel herab.
Auch schenkt uns der Herr viel Gutes,
und unser Land gibt seinen Ertrag dazu.
Gerechtigkeit zieht vor ihm her
und bestimmt die Richtung seiner Schritte.
Liebe Gemeinde,
zu Beginn dieser Woche hatte ich die Bereitschaft für die Notfallseelsorge. Notfallseelsorge, so lautet die Erklärung auf wikipedia, „ist Teil der organisierten psychosozialen Notfallversorgung. Sie ist darauf ausgerichtet, Opfer, Angehörige, Beteiligte und Helfer von Notfällen in der akuten Krisensituation zu beraten und zu stützen. Aber auch Hilfe nach häuslichen traumatischen Ereignissen, wie nach erfolgloser Reanimation, plötzlichem Kindstod und Suizid sowie Begleitung der Polizei bei der Überbringung von Todesnachrichten gehört zum Einsatzspektrum der Notfallseelsorge.“ Auch weil mein Dienst ruhig blieb, habe ich mich noch einmal besonders mit möglichen Einsatzsituationen und den dort oft vorkommenden Trauersituationen beschäftigt und mir ist aufgefallen, dass es Parallelen gibt zwischen den vier klassischen Trauerphasen, die man in der Seelsorge kennt, und dem Erleben vieler in der Pandemie.
Die erste Trauerphase ist das Nichtwahrhabenwollen. Übersetzt für uns wären das Aussagen aus dem Januar, Februar und März 2020 wie: Das kann doch gar nicht sein, dass so ein kleines Virus so etwas bewirkt. Und wenn, dann nicht bei uns in Deutschland. Das war doch noch nie so. In einer zweiten Trauerphase brechen Gefühle auf. Wut und Zorn darüber, was alles plötzlich nicht geht. Die lang geplante Party zum Geburtstag der Mutter, die Hochzeit guter Freunde, die Konfirmation des Patenkindes, Urlaube, Besuche bei der Oma.
In der dritten Trauerphase geht es um das Suchen und sich langsam Trennen. Was kann ich bewahren von dem, was war? Auf was kann ich dauerhaft verzichten? Was kann ich loslassen und verabschieden? Und was kann vielleicht neu werden? In der vierten Trauerphase orientiert man sich neu und findet wieder einen Platz im Leben, von dem aus es weitergehen kann. Wir werden lernen mit dieser Pandemie und was sie bewirkt hat, zu leben.
Natürlich sind diese Phasen nicht statisch. Niemand wird bewusst sagen können: „So, jetzt trete ich in die Phase Wut ein und jetzt in die Annahme.“ Das ist eher ein Prozess und kann auch zwischen verschiedenen Phasen hin- und herwechseln. Aber ich meine, ich konnte diese Phasen immer wieder feststellen, und besonders oft habe ich in Gesprächen entdeckt, wie zornig und wütend manche waren. Manchmal war es kalter Zorn, der lethargisch und stumpf gemacht hat. Manchmal war es Zorn, wenn wieder mal etwas nicht funktioniert hat, wenn eine Familie wieder mal entscheiden musste, wer zur Beerdigung darf und wer nicht.
Wie ein Rumpelstilzchen bin ich zum Beispiel durch unser Haus getigert, als letztes Jahr am 23. Dezember der Anruf einging, dass wir Weihnachten keine Gottesdienste feiern dürfen. Zur gleichen Zeit war ich hilflos und doch voller Wut.
Und am wenigsten mochte ich im letzten Jahr den Satz: Wir holen das nach. Ich halte das für Unsinn. Man kann vieles eben nicht nachholen. Es gibt vielleicht Neues, was man tun kann, aber nachholen ist in vielen Dingen Quatsch. Vertröstung. Mich hat das manchmal sogar wütend gemacht.
Auch Gott wird in der Bibel immer wieder als zornig und wütend beschrieben. Allein die Psalmen erwähnen Gottes Zorn beinahe fünfzig Mal. Gott ist dann nicht lieb, nicht friedlich, sondern schnaubend vor Zorn und außer sich vor Wut. Sein Zorn bringt häufig Vernichtung und Verderben. Genau verstehen kann man den Zorn Gottes oft nicht, vieles daran bleibt uns verborgen. Halt gibt dabei die Gewissheit, dass Gott schon immer an seiner Beziehung zu uns Menschen festgehalten hat.
Das Volk Israel hat das in besonderer Weise erfahren. Die Wut und den Zorn Gottes hatten sie erlebt. Sie mussten ihr Land verlassen, lebten lange Jahre im Exil, in der Fremde, kamen dann zurück in ein zerrüttetes und kaputtes Land. Jetzt sollte es eigentlich aufwärtsgehen, so hatte Gott das versprochen. Aber irgendwie wurde es nicht gut. Deswegen treten sie ein in das Gespräch mit Gott. Und sie beginnen in ihrem Gebet damit, Gott daran zu erinnern, was er versprochen hatte.
In einer Situation großer Verlassenheit wird Gott geradezu beschworen, dass sein Zorn doch verraucht ist und der Ärger aufgegeben: Du hast uns wieder lieb gewonnen. Du hast vergeben. Du hast verziehen. Du hast den Zorn aufgegeben. Wie so oft wandelt sich in den Psalmen die Klage zum Lob und in der Zwischenzeit ist etwas passiert. Was da passiert ist, kann aber im Psalm selbst nicht nachvollzogen werden.
Aus der Geschichte des Volkes Israel wissen wir aber, dass es eine besondere Zeit der Gefangenschaft gab. Die sog. Babylonische Gefangenschaft, die ich eben schon angedeutet habe. Ein katastrophales Ereignis in der Geschichte des Volkes Israels, einschneidend und verändernd. Das Volk hatte es nicht für möglich gehalten, dass die Babylonier, ein fremdes Volk, einmal die Oberschicht Israels, nach Babylon in die Gefangenschaft führen würden. Dass sie das verheißene Land einfach zurücklassen mussten, es ihnen weggenommen wird, dass der Tempel, in dem das Volk Gott anbetet, zerstört werden könnte.
Aber so ist es geschehen. Knapp 600 Jahre v. Chr. begann das Babylonische Exil, die Gefangenschaft, und löste eine große Krise aus. Für alle, die deutlich nach dem zweiten Weltkrieg geboren sind, wird das vielleicht die Corona-Pandemie sein, ein einschneidendes Ereignis, das das Leben, unsere Kultur, unser Selbstverständnis, unsere Sprache nachhaltig verändert.
Aber ein Unterschied bleibt für mich, neben anderen, wichtig. Das Volk Israel deutet die Gefangenschaft als Folge von Gottes Zorn. Wie die Pandemie zu deuten ist, bleibt für mich offen. Nichts mag ich ausschließen. Nach rund 70 Jahren Gefangenschaft an den Flüssen Babylons kam für das Volk Israel dann die Wende. Jesaja kündigt das Ende der Gefangenschaft an:
Tröstet, tröstet mein Volk. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.
Das war der Anfang der Rückkehr. Es sollte eine triumphale Heimkehr werden, aber es war nicht so und deshalb wendeten sie sich mit ihrer Klage darüber an Gott. Mir ist bei diesem Psalm heute wieder neu klar geworden, wie gut es ist so offen ins Gespräch mit Gott einzutreten. Klagen und weinen und über Gottes Zorn sprechen dürfen, darüber, dass ich oft nicht verstehe, wie Gott ist. Dass wir überhaupt nicht alles erklären können, dass wir oft einfach nur da sein können und mit aushalten und dennoch vertrauen können, dass Gott das Gute für uns will und rettet, auch wenn wir das im Augenblick nicht erfahren. Das ist schwer.
Beten für etwas, Gott anflehen, sich aber dennoch weit weg fühlen von ihm – beides geht, beides ist möglich. Ich bin dankbar, mit dem Psalmbeter, jemanden zu kennen, der diese Worte an Gott richtet. Der sich traut, ihn zornig zu nennen, weil es sich eben genau so anfühlt.
Für all die widerstreitenden Gefühle und Zustände der verschiedenen Trauerphasen, die wir in der Pandemie und auch in anderen Nöten durchmachen, finden sich besonders in den Psalmen Worte und Bilder. Und wir können uns die Worte und Bilder ausleihen in allen diesen Phasen. Die Psalmen finden Worte für das, was schwerfällt anzunehmen. Mit den Psalmen kann ich sogar lernen die Größe Gottes und auch seinen Zorn zu akzeptieren.
Und uns bleibt die Gewissheit, dass der Zorn nicht der letzte Akt Gottes ist. Seine Liebe reicht weiter. Es heißt ja im Psalm auch: Gerechtigkeit und Friede werden sich küssen. Ein starkes Bild, auf das ich meine Zuversicht setze.
Und noch weiter hat Gott seine Geschichte der Liebe zu den Menschen geschrieben in seinem Sohn, der zu uns auf die Erde kam, auch um uns vor Augen zu führen, dass im Gegensatz zur Liebe Gottes Zorn nicht ewig anhält. Und in dieser Gewissheit empfangen wir auch gleich wieder in der Beichte die Vergebung unserer Sünde, all dessen, was uns von ihm trennt. Gott sei Lob und Dank dafür. AMEN.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. AMEN.
Pastor Florian Reinecke,
November 2021