Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Liebe Gemeinde,
ich kann es kaum erwarten. Ich kann kaum erwarten, dass dieses Jahr 2020 nun zu Ende geht und das Neue anfängt. Diese Worte habe ich jetzt oft gehört. Schon im Mai habe ich die ersten kleinen Bilder und Sprüche wahrgenommen, die genau das ausgedrückt haben. Die Sehnsucht, dass dieses Jahr endlich zu Ende geht und nun stehen wir auf der Schwelle, um ins neue Jahr zu gehen.
Dabei ist es für viele nicht so einfach, das, was in diesem Jahr so gewesen ist, hinter sich zu lassen. 2020 war ein Seuchenjahr. Wir lebten die meiste Zeit im Ausnahmezustand und ein Ende ist auch über den Jahreswechsel, trotz angelaufener Impfung, nicht in Sicht.
Wir sind Regeln verpflichtet, die der Eindämmung der Not dienen sollen, aber deren Sinn nicht immer klar nachvollziehbar ist.
Und doch war das jetzt endende Jahr bunt gemischt, die lange Liste fängt bei A wie Angst an, geht über L wie Lesbos, das für die Notlage in so vielen Flüchtlingslagern steh, geht über S wie wunderbarer sorglos Sommer, geht über W wie Waldbrände in Australien und hört bei Z wie Zerstörung der Umwelt nicht auf, auch wenn das alles bestimmende Thema uns bereits bei C wir Corona festhält.
Ich kann es kaum erwarten. Das war die Stimmung des Menschen, der vor Jesus trat und sich nach dem Ende seines Glaubenszwiespaltes sehnte.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben
Diese Bitte ist die Jahreslosung des noch aktuellen Jahres. Den Glauben kann man eben nicht so haben, wie man ein Sofa hat. Oder ein Buch. Der Glaube ist immer auch wackelig und angefragt, nicht nur von außen. Denn da steht die tiefe Dankbarkeit für den Segen, den ich in meinem Leben auch im vergangenen Jahr erfahren durfte direkt neben dem, was mein Leben und meine Gewissheit erschüttert.
Ich nehme wahr, dass das in diesem Jahr besonders eng beieinander liegt. Es verdeutlicht: Der Glaube und das Vertrauen darauf, dass ich in meinem Leben behütet bleibe und dass Gott es gut mit mir meint, sind nicht verfügbar.
Und so pendelt es zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Vertrauen und Unverständnis, zwischen Gewissheit und Zweifel, zwischen Angst und Zuversicht immer hin und her. Und ich kann es kaum erwarten, dass das ein Ende nimmt.
Für das kommende Jahr gibt uns Jesus ein wenig Reiseproviant mit, wovon unser Glaube, unser Vertrauen und unsere Gewissheit auf unserem Weg durch 2021 zehren können.
Denn Jesus stellt im Gegenüber zu manchen Erfahrungen, Erlebnissen, Befürchtungen und Zweifeln fest: Gott ist barmherzig.
Inmitten einer beachtenswerten Predigt spricht Jesus diesen Satz, der von einer Kommission über das kommende Jahr gestellt wurde.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Dieser Vers ist die Vervollständigung zur Jahreslosung 2016 aus Jesaja: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Gott als uns zugewandtes Gegenüber, als unsere Eltern, Mutter und Vater. Tröstend und barmherzig.
Während wir eine gute Idee davon haben, wie eine Mutter tröstet, steht uns das Wort Barmherzigkeit vor Augen, aber es zu füllen fällt schwer.
Wer gedanklich im Bereich des Wortfeldes Mitleid landet, ist nicht ganz falsch, bleibt aber weit hinter dem zurück, was die Barmherzigkeit zum Ausdruck bringt.
Um zu entdecken, wie Gottes Barmherzigkeit aussieht, hilft uns das alte und bekannte Gleichnis vom erst verlorenen und dann gefundenen Sohn.
Dort begegnet uns Gott als ein Vater, der nicht müde wird, dahin zu gucken, wo sein die Freiheit suchender Sohn irgendwann einmal am Horizont mit seinem Erbteil verschwunden ist.
Der Vater wartet und wartet und wird womöglich zum Gespött der Leute, die untereinander tuscheln: „Der Alte glaubt immer noch, dass sein Sohn wiederkommt!“
Dann kehrt der inzwischen bettelarme Sohn um und kommt nach Hause. Aber in welchem Zustand?! Frisch aus dem Schweinestall, total pleite, abgerissen und innerlich verletzt.
Doch der Vater lässt sich nicht von seiner Nase oder seinen Augen leiten, sondern von seinem barmherzigen Herzen. „Ich kanns kaum erwarten!“ sagt seine Initiative als er seinen Sohn am Horizont erblickt. Er rennt auf ihn zu, fällt ihm um den ungewaschenen Hals und knuddelt ihn von oben bis unten.
So ist unser Gott: Er kann warten, will gerne vergeben und hat offene Arme für alle, die sich so furchtbar verlaufen haben und zu denen zähle auch ich mich immer wieder.
Gott hat ein Herz für die Armen, ist „barmherzig“ und ist Helfer für Leib und Seele. Er berührte die Aussätzigen. Hilft bei Krankheit und Tod. Sitzt mit Zöllnern und Sündern an einem Tisch. Er sucht Verlorene und feiert Freudenfeste mit Gefundenen.
Viele Menschen haben hautnah erlebt, wie Jesus sich ausgerechnet ihnen zuwendet, obwohl sie zu den Ausgestoßenen zählen. Das Leid der Kranken, der Hirten und Huren, der Witwen und Waisen geht unserem Herrn Christus ans Herz und deshalb finden wir ihn an Orten, an denen die Frommen und Starken ihn nie gesucht hätten.
So sitzt er auch bei uns. Sucht unsere Nähe und hört uns zu mit unserem Freud und Leid des vergangenen Jahres, in welchem wir wieder viel zu oft mit uns selbst beschäftigt waren und viel zu wenig damit die Not anderer zu sehen und dagegen aktiv zu werden.
Wir kennen alle das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und wissen, wie zielgenau Jesus uns damit anspricht. Stellt euch für einen Augenblick vor, ihr würdet diese kurvenreiche, gefährliche Straße von Jerusalem nach Jericho entlangkommen und entdeckt den zusammengeschlagenen Mann am Straßenrand.
Da liegt einer, der Hilfe braucht. Ich sehe ihn. Was soll ich bloß tun? Es gibt immer viele Gründe wegzuschauen. Vorbeizugehen. Anderen den Vortritt zu lassen und sich um nichts zu kümmern. Schließlich kann man nicht die ganze Welt retten.
Ihr Lieben, heute könnten wir das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auch anders erzählen: Statt von einem Raubüberfall zu sprechen entdecken wir Menschen die von Krankheit, Armut, Einsamkeit, Depression, Hass, Gier und Neid überfallen werden. Jeder einzelne Betroffene wartet auf seinen barmherzigen Samariter.
Die Frage: Wer ist mein Nächster? wird zu der Frage: Wem bin ich der Nächste? Wer ist mir vor die Füße gelegt, sodass es mir ans Herz geht.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Wir können und werden aber erst barmherzig sein, weil Gott uns gegenüber so ist. Gott lässt sich auf uns ein, obwohl er genau weiß, welches Theater er mit uns haben wird, wenn wir wieder weglaufen, ihn aus dem Blick verlieren und nur uns selbst sehen.
Aber er sagt jedem von uns: Du wirst oft hinfallen und wieder aufstehen. Du wirst oft losgehen und wieder hinfallen und zurückkommen. Und ich kann es kaum erwarten, dass ich dich in meine Arme schließen kann.
Ihr Lieben, je näher wir Gott sind, desto mehr kann es uns gelingen, barmherzig zu sein. Und wir lernen mit seinen Augen und seinem Herzen zu schauen. Auf uns selbst und auf andere.
So entdecken wir dann auch, was uns selbst und anderen an Nähe, Zuneigung, Hilfe, eben an Barmherzigkeit fehlt und können weitergeben, was wir selbst erfahren haben: Gottes Liebe, die beständig bleibt, wie wir von Paulus eben in der Lesung gehört haben. Gottes Liebe, die uns und allen Menschen gilt und von der uns niemand trennen kann.
Ich kann es kaum erwarten, auch im kommenden Jahr wieder diese Barmherzigkeit und Liebe Gottes durch ihn selbst und andere an mir zu erleben und davon weiterzugeben, an die, die Gott mir vor die Füße und ans Herz legt. AMEN.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. AMEN.
Pastor Florian Reinecke,
Dezember 2020