Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Ihr Lieben,
Jesus und seine Jünger sind wieder einmal unterwegs als sie einen Blinden entdecken. Die Jünger sind wissbegierig, wollen von ihrem Meister lernen und verstehen, wie die Welt funktioniert und nach welchen Regeln das Leben läuft. Und Jesus lehrt sie neu sehen.
Natürlich waren die Jünger geprägt von den Umständen der damaligen Zeit, in der es üblich war, zu denken, dass eine Krankheit ihren Ursprung im Leben des Erkrankten hat. Oder ganz kurz: Wer krank ist, hat irgendwas falsch gemacht. Ist also selbst schuld. Wie aber ist das bei jemandem, der schon blind geboren ist? Wer ist schuld daran?
Ihr Lieben, es lebt sich einfacher, wenn man die Welt klar aufteilen kann in Böse und Gut, Schwarz und Weiß, schuldig und unschuldig.
Genau das ist ja das Erfolgsgeheimnis vieler politischer und auch religiöser Systeme. Sie geben einfache Antworten und bewahren uns davor, uns mit komplexen Problemen und den konkreten Menschen zu beschäftigen.
Einfache Antworten machen die Welt überschaubarer und weniger bedrohlich. Das ist an manchen Stellen auch notwendig, damit wir überhaupt klar kommen mit dem Leid in der Welt und in unserem eigenen Leben. Aber das bedeutet nicht, dass es deshalb nachhaltig gut und richtig so ist.
Überall da, wo wir Schuld für das Leid identifizieren und sie im günstigsten Fall sogar jemand anderem zuweisen können, kommen wir einigermaßen klar. Aber so einfach ist das nicht.
Stell dir vor, du bist am Krebs erkrankt. Ich weiß einigen von euch ist das sehr nah. Du bekommst die Diagnose und schnell rattert der Kopf los: Was habe ich denn bloß falsch gemacht, dass mir das passiert. Ich bin mir sicher, dass ich irgendwas falsch gemacht habe, denn sonst müsste ich mich doch jetzt nicht damit quälen.
Solche Gedanken und Schlussfolgerungen bestechen durch ihre Einfachheit, aber durch den Versuch die Schuldfrage zu klären entkommt man dem Leiden nicht, sondern wird regelrecht gefangen gehalten.
Zurück zu den Jüngern, sie kommen mit Jesus an dem Blinden vorbei und fragen nun Jesus, wer denn nur gesündigt hat, der Blinde oder seine Eltern. Für sie ist das Problem einfach. Schwarz oder weiß? Entweder-oder?
Die Schuldfrage hilft aber nicht weiter und Jesus steigt regelrecht aus aus dem System, das sich so auf Schuld und Sünde fixiert hat.
Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
Jesus richtet den Blick weg von der Suche nach dem Warum hin zu dem Wozu. Die entscheidende Frage ist hier nicht mehr: „Wer hat Schuld?“ Sondern: „Was hat Gott mit diesem Menschen vor?“
Jesus sieht den Blinden und das, was ihm helfen wird.
Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist;
Und genau das tut er dann auch. Jesus wendet sich dem Blinden ganz körperlich zu, vermischt seinen Speichel mit etwas Erde, trägt diese Mischung auf die blinden Augen und schickt ihn zum Teich Siloah. Auf seine Worte hin, geht der Blinde los, wäscht sich dort und sieht die Welt mit eigenen Augen und ist nun nicht mehr angewiesen auf andere, die ihm erzählen, was sie sehen.
Jesus sieht aber nicht nur den Blinden und seine Not und hilft ihm. Er sieht auch seine Jünger mit ihrer Not. Er sieht, wie sie sich mit der quälenden Frage nach der Schuld, im Gestern verlieren.
In all dem, was da an dem Blinden geschieht, öffnet er den Jüngern die Augen für das, worum es geht. Er hilft ihnen aus der Sackgasse heraus, in der sie sich befinden. Es geht nicht um die Vergangenheit, die unveränderbar bleibt, sondern um die Zukunft, die durch die Werke Gottes gestaltet werden soll. Jesus wendet ihren Blick, richtet ihn neu aus und hilft den Jüngern in die richtige Richtung zu schauen, damit sie Gott und sein Wirken sehen, denn um beides geht es im Leben.
Wer das schon erlebt hat, wie Gott die eigene Blickrichtung verändert, und ich kann mir vorstellen, dass das viele von euch sind, wer das schon mal erlebt hat, der weiß, dass es besonders im Leiden eine so große Befreiung ist, wenn Gott unseren Blick endlich nach vorne richtet auf sich und in eine Zukunft.
Wenn es im Leben schwer wird, dann sieht man erstmal viel zurück. Warum musste dies oder jenes geschehen? Was habe ich nur getan, dass mir das passiert? – wir hatten das eben schon.
Es ist der Versuch einen Sinn zu finden, die Zusammenhänge und Ursachen zu verstehen, aber meistens findet man nur vorübergehende und unzureichende Antworten.
An Jesus und seinen Jüngern wird deutlich, dass Gott den Blick verändert und mit der Zeit auch die Fragen, auf die wir nach Antworten suchen. Dann gibt es auf einmal Fragen wie: Und wozu das Ganze jetzt? Was trägt das aus für mich und mein Leben und vielleicht das Leben anderer?
Jesus nimmt uns hier förmlich an die Hand und bringt uns das Sehen neu bei. Er lehrt einen Blick, der nicht nach Schuld und Verurteilung sucht, sondern, der stattdessen wachsam Ausschau hält nach den Werken Gottes, die er an uns und durch uns wirkt.
Das alles braucht Zeit, immer wieder Sehhilfen und auch ein wenig Übung.
Der Blinde hier sieht übrigens auch nicht gleich, der muss erstmal noch einen Weg zum Teich beschreiten, bis er die Welt mit seinen Augen sehen kann.
Auch die Jünger haben noch ein wenig gebraucht, bis sie verstanden haben und den Durchblick hatten.
So brauchen auch wir eine Weile, manchmal sogar Jahre bis wir dieses neue Sehen lernen. Weg von dem Warum, hin zu dem Wozu. Weg von der Suche nach Schuld und Antworten in der unveränderlichen Vergangenheit, hin zu der Suche nach Gott und einer Zukunft mit ihm, in der es nicht so bleiben muss, wie es ist und war.
Bei Paulus findet sich ein Versprechen, dass wir dieses neue Sehen lernen werden. An die Korinther schreibt er deutlich von dem Sehen für Fortgeschrittene. Da heißt es dann:
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 1.Kor.13,12
Das wird großartig. Und ich freue mich auf diesen Durchblick.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. AMEN.
Pastor Florian Reinecke,
Juli 2020