Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Ihr Lieben,
überwältigend müde und matt sind sie. Als alles anfing und sie das erste Mal davon hörten, wollten sie es nicht wahrhaben. Sie waren geschockt und konnten sich nicht vorstellen, dass das gerade wirklich geschieht. Sie konnten nicht fassen, dass es sie auch sie betrifft. Und dann waren sie plötzlich aus den stützenden Alltagsroutinen herausgekegelt. Auf einmal ist vieles auf den Kopf gestellt, was sonst wie selbstverständlich ablief. Das Miteinander, das Unterwegssein, die Kontakte zu Nachbarn, Freunden, der Familie.
Als der erste Schock verdaut war, starteten sie den Versuch, mit den neuen Umständen und den neunen Regeln umzugehen und wurden aktiv. Sie versuchten sich einen Überblick zu verschaffen und hofften darauf, dass sie sich einen provisorischen Alltag stricken können, bis alles wieder normal wird. Doch nach wenigen Wochen stellen sie fest, normal wird es nicht mehr. Also nicht so wie es vorher war. Es wird kein Zurück geben, sondern es wird eine neue Normalität geben. Wie die aussieht, wissen sie nicht und wann sie eintreten wird auch nicht.
Nun sitzen sie da, fern von der Heimat und sind auf einmal müde und matt. Alle Hoffnung, alle Aktivität der letzten Wochen gedanklich, wie körperlich hat sie in Spannung gehalten. Doch auf einmal ist die Spannung weg. Sie sind schlaff und nun schauen sie mit leeren Augen ins Feuer und stochern in der Glut.
Ihr Lieben,
was zunächst so wirkte, als würde ich Menschen in den letzten Wochen beschreiben, das ist eine Beschreibung der Israeliten, die aus ihrem Land vertrieben wurden und nun in der babylonischen Gefangenschaft sitzen.
Dass die Worte Gottes, die Jesaja den Israeliten zuspricht auch heute aktuell sind, das liegt unter anderem daran, dass Krisen, so, wie wir sie gerade erleben, für gewöhnlich in den immer gleichen Phasen ablaufen.
Da gibt es zu Beginn einen Auslöser. Ein Unfall, die Nachricht einer schweren Erkrankung, der Tod eines lieben Menschen oder eben auch der Ausbruch einer Pandemie. Auf den Auslöser folgt eine Phase des Schocks, in dem versucht wird weiterzumachen wie bisher.
bekommt, dann beginnen viele wieder aktiv zu werden. Und jetzt kommt die wohl Wenn der erste Schock überwunden ist und man nach und nach den Überblick längste und quälendste Phase. Die Latenz. Es besteht eine Verzögerung zwischen dem Leben verändernden Ursprungsereignis und dem Eintreten einer neuen Normalität.
Jesaja spricht die Worte Gottes in eine solche Latenzzeit hinein. Das Volk Israel ist schon seit langer Zeit in der babylonischen Gefangenschaft. Ihr Land wurde damals erobert und sie wurden deportiert. Nichts war mehr so wie es vorher war und sie hatten den Glauben daran verloren, jemals wieder in ihr Land zurückzukommen. Zumal die Aussicht auf eine Rückkehr trostlos erscheint. Mit eigenen Augen haben sie gesehen, wie ihre Städte und der Tempel zerstört wurden.
Müde und matt, so, wie die Israeliten, so fühle ich mich auch und mit mir einige, weil wir gerade nicht wissen, wo das alles hinführt. Müde und matt machen auch die neuerlichen Beschlüsse und sie rufen Unverständnis hervor. Steht die Wirtschaft über allem? Warum dürfen Geschäfte öffnen, aber Sozialkontakte bleiben weiterhin stark beschränkt und sollen bestenfalls vermieden werden?
Natürlich hängen an den Geschäften Menschen und ihre Existenzen, aber wer sieht diejenigen, deren Leben gerade in größte Bedrängnis gerät, weil sie keine Orientierung mehr haben? Wer hat die Kinder im Blick, die zuhause unter den Gewaltausbrüchen ihrer Eltern leiden? Wer sieht die Eltern, die sich an der Betreuung ihrer Kinder aufreiben?
Wer nimmt die Obdachlosen, die Geflüchteten, die Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen wahr und wirklich ernst und sorgt dafür, dass psychisches, soziales, seelisches und geistiges Leiden begrenzt wird? Man kann das nicht in Zahlen messen und Geld reinstecken und damit gute Nachrichten produzieren und sich in ein gutes Licht rücken, das ist mir klar. Aber die Rechnung dafür kommt deutlich später und wird sehr hoch ausfallen, dessen bin ich mir gewiss!
Mehr und mehr höre ich Stimmen, die danach fragen, was Gott eigentlich macht, ob er das alles überhaupt mitbekommt. So ging es den Israeliten damals wohl auch zu denen Jesaja redet.
Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber?
Und er sagt seinen Leuten im Auftrag Gottes: Kopf hoch! Und das meint er wörtlich. Schaut doch mal hoch und von euch und eurem Leiden weg. Schaut doch einmal die Sterne. Gott hat alles das gemacht, erhält die Welt und führt sogar das Weltall. Natürlich sieht er euch, sein auserwähltes Volk und er kann und wird euch helfen.
Euch und mir selbst kann ich auch sagen: Kopf hoch! Augen auf! Der Frühling führt uns in aller Deutlichkeit vor Augen, welch eine Macht Gott hat und dass er Leben will. An Ostern wird Jahr für Jahr sichtbar, wie sehr Gott Leben will. Damit wir Leben haben, sogar über den Tod hinaus, hat er seinen Sohn sterben lassen und zu neuem, ewigen Leben auferweckt.
Das prägt unser Leben, dass wir Gewissheit haben, dass der Tod nicht das Ende ist. Und wie das geht, dass wir nicht vor Angst und Müdigkeit eingehen, das beschreibt Jesaja:
Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Auf den Herrn harren… Wer harrt, der hat Ausdauer, der hat Geduld, der lässt sich von einer Sache nicht so schnell abbringen. Wer also auf den Herrn harrt, der hält auch dann noch an Gott fest, wenn ihm Dinge begegnen oder er Erfahrungen macht, die sich nur schwer verkraften lassen.
Gerade wer in der Not Gott sein Leid klagt und ihn an seine Zusagen und Verheißungen erinnert, der kann erleben, wie er – scheinbar aus dem Nichts – wieder Kraft bekommt.
Auf den Herrn harren… an ihm festhalten, ihn nicht loslassen, auch wenn es schwerfällt. Das hilft uns, den Kopf hochzunehmen und über den eigenen eingeschränkten Horizont hinauszublicken.
Ursprünglich bedeutete das Wort harren sogar noch etwas anderes. Das hebräische Wort bezeichnet ein gespannt sein. Gespannt sein wie eine Gitarrensaite oder wie die Sehne eines Bogens. Auf Gott harren bedeutet also auch: Gespannt sein darauf, was Gott jetzt mit uns vorhat. Statt zurückzuschauen und dem Gewesenen hinterher zu trauern, kommt es jetzt darauf an, nach vorne zu schauen, und zwar nicht so sehr auf das, was wir uns vornehmen, sondern auf das, was Gott mit uns vorhat.
Aber die Frage ist da dann natürlich: Was hat er denn mit uns vor? Das wir das nicht wissen macht es spannend und wir dürfen gespannt sein und bleiben. Denn dass er uns begleitet und uns eine Zukunft schenkt, das hat er zugesagt und in seinem Sohn Jesus Christus unterstrichen. Das gibt Kraft, eine die nicht aus uns kommt, sondern die er uns auf wundersame Weise schenkt und das auf immer wieder auch beeindruckende und überraschende Art und Weise. Dafür danke ich ihm. AMEN.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. AMEN.
Pastor Florian Reinecke, April 2020