12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. 13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Liebe Brüder und Schwestern,
Vielleicht könnt ihr euch noch dran erinnern. Im Jahr 2013 war das hier die Jahreslosung: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Ich kann mich noch ganz genau dran erinnern. Ich war damals inmitten des ersten theologischen Examens. Und wer das durchgemacht hat, wird wissen, dass es keine einfache Zeit ist! So manches mal hab ich mir gewünscht und es herbeigesehnt, dass der Jüngste Tag doch bald anbrechen würde. Und ich freute mich damals über diese Jahreslosung. Sie sprach mich an, sie war brandaktuell für mich. Diese Stadt, das, was wir vor Augen haben, das, was wir hier erleben und durchmachen müssen, hat keinen Bestand. Es wird nicht bleiben. Es ist irgendwann vorbei. Es gibt mehr.
Freilich ist das erste theologische Examen nicht das Ende der Welt. Es geht nicht um Leben und Tod, Gott sei Dank! Ich habe es bestanden und überstanden - und schon bald setzt das Leben nach dem Examen ein. Ich komme ins Vikariat, in die erste Gemeinde, und es geht mir gut. Klar, es gibt auch dunkle Stunden, aber im Großen und Ganzen läuft das Leben in geregelten Bahnen ab. Wünsche und Träume gehen in Erfüllung, der Alltag gestaltet sich einigermaßen gemütlich, und man kann schon fast mit dem Lehrer Lempel aus „Max und Moritz“ sprechen: „Die größte Freud ist doch die Zufriedenheit.“
Kennst du das? Dass in gewissen Situationen dich gewisse Bibelverse besonders ansprechen? Dass du, vor allem dann, wenn es dir schlecht geht, wenn du Schweres zu tragen hast, dass du dann von gewissen Bibelversen besonders getragen und ermutigt wirst? Dass du gerade dann die Weitsicht hast, die Augen für die Ewigkeit zu öffnen? Dass du gerade dann, wenn es dir hier in dieser Stadt nicht so gut geht, den Blick für die ewige Stadt hast? Dass es dir dann besonders leicht fällt, vom irdischen Glück Abstand zu nehmen…
Aber mit der Zeit, das ist zutiefst menschlich, verflüchtigt sich dieses Empfinden. Mit der Zeit – es kommen ja gewiss auch wieder helle Stunden – da vergisst man die ewige Stadt. Weil es hier doch noch schön ist. Der Blick wird wieder auf das Irdische gerichtet. Und schon ist der Vers aus Hebräer 13 erstmal ganz weit weg.
„Rums, da geht die Pfeife los.“ Ihr Lieben, wir sind kollektiv aus unserer relativ gemütlichen Situation herausgerissen worden. Explosionsartig macht sich ein Virus breit, der alles umkrempelt. Seit 75 Jahren haben wir hier in Deutschland so etwas nicht erlebt. Nicht nur hier, sondern weltweit. Das gab es in dieser Form noch nie.
Jeder von uns wird seine eigenen Sorgen und Nöte mit der jetzigen Situation haben. Einige von uns sind besonders gesundheitlich gefährdet. Da geht es tatsächlich um Leben und Tod. Einige von uns sind wirtschaftlich stark belastet. Da geht es um die Existenz. Einige sind emotional am Ende – es ist nicht einfach, in der Ausgangssperre mit Kind und Kegel zuhause sitzen zu müssen und alle irgendwie bei Laune zu halten. Alle zusammen erleben wir in diesen Tagen Einschränkungen und Herausforderungen, die tatsächlich Angst machen.
Und so, lieber Bruder, liebe Schwester, wird dieser Vers aus Hebräer 13 wieder brandaktuell. Plötzlich hat er eine brisante Relevanz. „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Als ob Gott uns wachrütteln will, weil wir es uns hier (wieder einmal) zu gemütlich gemacht haben! Weil wir seine Hinweise auf die Vergänglichkeit dieser Welt zunehmend ignoriert haben. Weil wir die ewige, die zukünftige Stadt, aus den Augen verloren haben!
Wir werden heute morgen in dieser unserer scheinbar aussichtslosen Situation getröstet. Wir werden getröstet mit dem Gedanken, dass diese Stadt, dass dieses Leid, diese Angst, dass das alles nur vorübergehend ist. Es hat ein Ende. Auch wenn es dir gerade nicht so erscheint, es ist irgendwann vorbei. Darum geht es hier. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die zukünftige Stadt, das himmlische Jerusalem. Eine bleibende Stadt. Eine Stadt, die der Seher Johannes in seiner Offenbarung im 21. Kapitel so schön beschreibt:
2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Aber, noch sind wir hier. Es könnte sogar sein, dass wir noch eine Weile lang hier sind. Alles Leid hat schließlich ein Ende. Auch diese Krise wird vorübergehen. Und, so Gott will, werden auch wir das überleben und überstehen. Und genau da stellt sich nun die Frage, wie das Leben danach aussehen wird? Wird dieser Vers aus Hebräer 13, wird der Blick für die zukünftige Stadt, wird unser Sehnen nach der Ewigkeit, wird das alles irgendwann wieder verblassen und in weiter Ferne rücken? Wird sich das alles wiederholen?
„Die zukünftige suchen wir.“ Ihr Lieben, diese zukünftige Stadt will gesucht werden. Auch und gerade dann, wenn der Alltag wieder einsetzt. Gerade dann, wenn uns die irdische Welt, wenn uns diese vergängliche Stadt, wieder einzunehmen droht. Gerade dann ist es wichtig, weiter zu suchen. Quasi gegen das Vergessen anzugehen.
Wo sollen wir da suchen? Wie bleibt uns dieser Blick erhalten? Wir sollen dort suchen, wo Christus selbst gesagt hat, dass er sich finden lassen wird: Im Wort und im Sakrament. Aufgrund des Opfers Christi (draußen vor den Toren der Stadt, wie es in Vers 12 heißt), aufgrund dieses Opfers wissen wir genau, wo wir suchen sollen.
„Lasst uns nun zu ihm hinausgehen“ – zum Kreuz, zu unserm Erlöser. Dort, bei ihm, in seinem Wort, in seinem Sakrament, stärkt er uns! Er stärkt uns, die jetzige, vergängliche Stadt mit all seinen Sorgen und Nöten, mit seinen Krankheiten und seiner Zerbrechlichkeit, durchzustehen. Und dort öffnet er uns die Augen für die zukünftige, für seine ewige Stadt.
Amen.
Pastor Roland C. Johannes, März 2020