10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie liebhabt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. 11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. 13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. 14 Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.
Ihr Lieben,
viele werden sich in diesen Tagen vermutlich sehr nach Normalität sehnen und darauf hoffen, dass etwas von dem, was Gott durch Jesaja da ausrichten lässt auch bei uns einkehrt.
Dieses Bild von einem Säugling, das der Prophet uns vor Augen malt, das spricht tiefe Sehnsucht in uns an. Ein kleines Kind auf dem Schoß der Mutter, gerade gestillt, liebend gekuschelt. Geborgen, versorgt, geliebt und rundum zufrieden.
Ein Zustand den gerade wohl nur die wenigsten von uns erleben. Nicht nur, weil die Umstände durch die Corona-Pandemie und der mit ihr verbundenen Sorgen und existentiellen Ängste das nicht zulassen. Auch vorher schon haben die meisten Erwachsenen so ein Gefühl umfassender Zufriedenheit nur noch selten.
Es gibt so vieles, was uns täglich bewegt und was noch zu tun ist. Zu vieles, was uns in Unruhe versetzt. Zu viel, was gerade jetzt nicht in Ordnung ist. Und besonders jetzt wächst der Wunsch danach, sich wie ein kleines Baby im Schoß der Mutter oder des Vaters rundum wohl zu fühlen.
Das Bild, das Jesaja da zeichnet, das ist ein Idealbild. Ein kleines Kind gestillt, satt, getröstet und fröhlich. So kann das Leben sein und wie schön, wenn es so ist. Und Jesaja verspricht seinen Hörern, dass es wieder so kommen wird. Dass Gott genau so ist, wie diese Mutter und dass er genau so mit ihnen umgehen wird und sie in Jerusalem neuen Trost finden werden.
Bemerkenswert, denn die Wirklichkeit sieht gerade anders aus. Jerusalem ist im Ausnahmezustand. Keine Gottesdienste im Tempel, das öffentliche Leben stillgelegt. Die Märkte menschenleer. Die Innenstadt zeigt ein trostloses Bild. Warum? Weil kein Stein mehr auf dem anderen steht. Jerusalem ist zerstört. Und in diese Situation hinein spricht Gott durch seinen Propheten von dieser wundervollen Zukunft, die sich niemand vorstellen mag.
Uns diese Ausnahmesituation Situation in Jerusalem vorzustellen, fällt uns diese Tage leicht. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in ihrer Fernsehansprache davon, dass die Lage ernst ist und wir sie auch ernst nehmen sollen.
Und ich denke die letzten Tage viel an die Alten und Kranken in unserer Gemeinde und mir fallen schnell zwei Hände voll Menschen ein, bei denen ich glaube, wenn die jetzt angesteckt werden, war es das für sie.
Das führt mir deutlich vor Augen, wie wichtig das ist, was diese Tage vom Robert Koch Institut empfohlen wird. Abstand halten, sich die Hände waschen, direkte Kontakte meiden. Akte der praktischen Nächstenliebe, auch wenn es mir zugegebenermaßen schwer fällt das zu Herzen zu nehmen und auf alles das zu verzichten, was mir zwischenmenschlich so wichtig ist.
Aber mir ist klar geworden, dass der Flaschenhals unseres Gesundheitssystems die Anzahl der Pflegebetten mit Beatmungsgeräten ist und dass es unverantwortlich ist, den Ärzten zuzumuten in eine Situation zu kommen, darüber entscheiden zu müssen, welcher von den zehn Patienten, die das letzte Bett benötigen, am Leben erhalten wird. Unvorstellbar für mich der Druck und das Leid auf allen Seiten, dieser Entscheidungssituation.
Absagen von Veranstaltungen, auf die man sich vielleicht lange gefreut hat, sind im Laufe der Woche reichlich eingetroffen. In all dem allerdings Luxusprobleme. Freunde von haben begründete Sorge um ihre Arbeit. So geht es vielen, die in Bereichen tätig sind, die unmittelbar von der Wirtschaft und dem Gewerbe jeglicher Art abhängig sind.
Ich glaube die größte Herausforderung dieser Tage wird aber noch eine andere sein. Abstand halten und dennoch zusammenbleiben. Die Gefahr zu vereinsamen, die schon vor der jetzigen Krise kritisch groß war, ist noch einmal dramatisch gewachsen. Und dann die Fragen: Wo finde ich denn jetzt Orientierung? Was hält? Wer tröstet mich? Wo finde ich Ruhe?
Das sind auch die Fragen von Jesaja. Er sieht die Verunsicherung der Menschen im verwüsteten Jerusalem. Von Gott hört er diese wundervollen Trostworte, die er an die Leute weitergibt:
Ihr werdet getröstet werden. Ihr werdet satt werden. Freude wird sich ausbreiten. Alles wird gut werden.
Für die Menschen damals war das zunächst einmal nur eine Hoffnung. Zu sehen, war davon noch nichts. Darum hat Gott ihn zu den Leuten geschickt, weil einige schon unruhig und unsicher wurden.
Es dauerte noch eine ganze Weile, aber am Ende kam es so, wie es der Prophet angekündigt hatte. Die Stadt füllte sich nach und nach wieder mit Leben. Im Tempel wurden wieder Gottesdienste gefeiert und die Stadt wieder neu aufgebaut. Es gab einen Neuanfang. Vieles wurde anders als vorher, aber gut.
Und bei uns? Keiner von uns weiß heute, wie wir aus dieser Krise herauskommen werden. Wie sich das alles genau entwickelt und wie es sich verändert. Es sind unsichere, ungewisse Zeiten und gerade das Ungewisse macht Angst. Dort wo uns die Freiheiten und Entscheidungen aus der Hand genommen werden, werden wir unzufrieden. In uns rebelliert einiges gegen die Begrenzungen von außen und diese ganze Krise schreit nach der Frage nach Gottes Eingreifen.
Das führt uns deutlich vor Augen was wichtig ist. Das Leben. Das Miteinander. Die Fürsorge und wir merken, wie schwer das gerade jetzt ist, jemandem Nahe zu sein, ohne ihn oder sie in den Arm nehmen zu können. Dabei schenkt doch gerade die Nähe Trost.
Darum hören wir heute genau hin, wie Gott sich den Menschen damals zeigt: Gott geht liebevoll mit uns um, gerade in Situationen, mit denen wir hadern, die uns Sorgen und unmittelbare Nöte bereiten, wenn wir Hoffnung verlieren und ins Nachdenken und ins Zweifeln geraten.
Uns gilt diese Zusage und damit Gewissheit, dass Gott seine Hand ausstreckt, um uns zu trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet. Er schenkt uns seine Liebe inmitten aller Unsicherheit.
Am Anfang des christlichen Glaubens steht allerdings die Erkenntnis: Das alles geschieht ganz anders, als wir Menschen das oft erwarten und erhoffen. Nicht so, dass das Coronavirus von jetzt auf gleich nicht mehr ansteckend wäre. Nicht so, dass alle unsere Probleme einfach beseitigt wären.
Sondern ganz anders: Am Kreuz auf Golgatha hängt ein Mann, von dem Menschen bis heute bekennen, dass er Gottes Sohn, dass er Gott selbst ist. Und der hat geholfen, indem er seine Hände hat durchbohren lassen. In aller Schwachheit war er stark und hat Gottes Hilfe in die Welt getragen.
Er nahm auf sich alle Krankheit. Wie eine Mutter alles tut, um ihr Kind vor Gefahren oder in Notlagen zu retten, hat Gott alles getan, um uns zu retten. Nicht vor dem Tod in diesem Leben. Der erwartet auch uns am Ende, wann immer das ist.
Aber er hat seine Hände am Kreuz ausgebreitet, um uns Leben zu schenken, uns zu trösten und uns eine Perspektive zu geben, die uns über die Not und die Hoffnungslosigkeit unserer Zeit hinweg hoffen lässt.
Wie schön, wenn das so wäre, dass wir den Trost daraus so wahrnehmen könnten, dass wir wie ein Baby geborgen, versorgt geliebt sind, so wie Jesaja das beschreibt. Manchmal lässt Gott uns solche Augenblicke erleben – und wenn wir genau hingucken, entdecken wir vielleicht mehr von ihnen, als es uns zunächst scheint.
Geborgen, versorgt, geliebt und zufrieden – das bleibt aber in jedem Fall eine Urhoffnung, auf die wir immer wieder neu zugehen. Gerade dann, wenn es uns nicht gutgeht, wir zweifeln und ins Grübeln geraten. So sollte es doch eigentlich sein, dass wir es guthaben.
Geborgen, versorgt, geliebt und zufrieden – diese Worte gleichen einem Trailer, für das, was uns mit Gott noch erwartet. Vielleicht nicht in dieser, aber auf jeden Fall in der Welt, die noch kommt.
Aber es ist erst einmal nur ein Trailer und noch nicht der ganze Film. Nur Appetithappen, damit die Vorfreude schon einmal geweckt wird. Ja, so wird es einmal sein: Geborgen, versorgt, geliebt und zufrieden. Oder wie es bei Jesaja heißt:
Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet spricht Gott. Amen.
Pastor Florian Reinecke, März 2020