Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.
Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:
Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
Ihr Lieben,
im Karneval kann man seinen Augen nicht immer trauen. Oft muss man mehrfach genau hinschauen um den Durchblick zu bekommen. Wer ist denn diese Prinzessin, der Cowboy, die Pippi Langstrumpf, der Handwerker, der Indian, der Engel oder das Einhorn, das mit da gerade gegenübersteht? Und wenn ich dann noch auf der Suche nach einer bestimmten Person bin und seine Verkleidung nicht kenne, dann wird es noch einmal besonders schwer in der Masse verkleideter Menschen jemanden zu finden.
Das Andere kennen viele von Euch auch: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, so geht ja das Sprichwort und es meint, dass man den Durchblick oder den Überblick verloren hat. Mit lauter kleinen Details im Blick wird man blind für das Eigentliche und Offensichtliche. Vor lauter Einzelheiten, sieht man das große Ganze nicht mehr. Ums Nicht-Sehen und Sehen und um den Durchblick geht es auch im Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern und bei der Heilungsgeschichte in der Folge.
Die Jünger sind unterwegs mit Jesus, wie seit fast drei Jahren. Sie kennen die Straßen in der Gegend. Sie kennen den heißen Wind, der alles austrocknet, die Schritte in Sandalen auf den sandigen Straßen, die Hähne und die Kinderstimmen in den Dörfern, die Rufe der Kranken nach Jesus, den Tonfall der provozierenden Fragen der Pharisäer, wenn sie mit ihrem großen Bibelwissen Jesus eine Falle stellen. Und auch das Gefühl, mit Jesus unterwegs zu sein, kennen sie. Am Anfang war es ungewohnt, als er sie berufen hatte: die Fischer, den Zolleintreiber und die anderen. Sie hatten sich daran gewöhnt.
Und noch etwas war nicht mehr neu. Dieses Gleichzeitige, dass Menschen zu ihm strömten, und dass zugleich offen zu hören war: die Anführer in Jerusalem haben beschlossen, ihn umzubringen.
Jetzt fängt Jesus an, von dem Weg nach Jerusalem zu reden. Aber dieses Mal redet Jesus von diesem Weg, den sie so gut kennen, wie seitenverkehrt. Sieben Dinge nennt er, und es ist, als ob sie ihn noch nie so gesehen haben: Er wird den Heiden übergeben werden, das heißt der römischen Militärregierung. Er wird verspottet und misshandelt und angespuckt werden. “Er, er, er“, heißt es da, viermal, aber jedes Mal ist er der Leidende, der Passive.
Er, der anderen geholfen hat, wo keiner helfen konnte, wird leiden. Und es klingt, als ob es so kommen muss. Als ob keiner ihm helfen kann. – Und dann rücken die Täter in den Blick, das ist das fünfte und sechste: Sie werden ihn geißeln und töten: Menschen werden ihn, der Menschen vom Tod lebendig gemacht hat, umbringen. Kein Wunder, dass Lukas schreibt, der Sinn dieser Rede war den Jüngern verborgen. Sie waren wie blind und begreifen nicht, was Jesus damit sagt.
Und dann war da einer am Wegrand, der war wirklich blind und konnte aber unheimlich gut sehen. Jesus und die Jünger sind auf dem Weg. Da sitzt ein Mann der blind ist; und das heißt zu seiner Zeit, er kann kaum etwas arbeiten, er kann nur betteln. Er hört, dass viele Menschen unterwegs sind und fragt, was los ist. Man sagt ihm, Jesus von Nazareth geht vorbei. Und er legt los. Nicht halblaut wie sonst, sondern laut und immer lauter, mit seinem Bettelschrei: “Erbarme dich meiner!” Aber er ruft ihn mit Namen: “Jesus.“ Und mit einem Titel, der einem Glaubensbekenntnis gleicht: “Du Sohn Davids!”
Und alle fahren ihn an. “Sei doch still!” - “Er aber schrie noch viel mehr”, schreibt Lukas, und wir hören den Ruf ein zweites Mal, als ob er uns ins Ohr gehen soll, mit dem Namen Jesus, mit dem Glaubensbekenntnis zu ihm als dem König, dem alle Macht von Gott gegeben ist, und mit dieser Bitte, die alle Not einschließt: “Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!” Und Jesus hört ihn und bleibt stehen. “Bringt ihn her”, sagt er.
Und dann steht er vor Jesus. Und Jesus fragt ihn: “Was willst du, dass ich für dich tun soll?” Warum fragt er? Hat er nicht bei der Witwe aus der Stadt Naïn gesehen, was ihre Not war; dass ihr einziger Sohn gestorben war? Hat er nicht bei den 5000 gesehen, wie hungrig sie waren, und ihnen von sich aus Essen gegeben? Sieht nicht jeder, was dieser Mann für eine Not hat?
Aber der soll es offenbar selbst aussprechen. Vielleicht unseretwegen, dass wir lernen, unsere Not vor Gott zu bringen, auch wenn er sie ja kennt. Und Jesus will wohl, dass die anderen hören, was für eine Not das ist. “Herr, dass ich sehen kann”, sagt der Mann. Und Jesus sagt: “Sei sehend. Dein Glaube hat dir geholfen.”
Da ist wieder dieses Seitenverkehrte. Die Menschen denken, sie sehen und wissen, wer Jesus ist. Sie glauben auch. Sie glauben, dass er endlich alles gut machen kann in ihrem Land, mit seiner großen Macht. Dieser eine dagegen kann ihn mit seinen Augen gar nicht sehen. Aber er sieht, was sie nicht sehen: Dass Jesus für ihn gekommen ist. Und er glaubt, was in ihrem Glauben kaum noch vorkommt: Dass er für die Schwachen kommt, für die, denen keiner helfen kann und sie sich selbst auch nicht, für jeden einzelnen.
Und sein Glaube hat ihm geholfen. Aber geholfen ist viel zu schwach übersetzt, für das, was Jesus da in Wirklichkeit gesagt hat. Der Glaube hat nicht geholfen. Durch den Glauben wurde er nicht nur sehend, sondern gerettet. Im Glauben tritt Jesus hinein in die Not und damit in die Gemeinschaft mit ihm, das lässt ihn noch viel weiter blicken, als dass ihm bloß die Augen geöffnet werden.
Dieser Mann sieht etwas, das die Jünger nicht sehen. Und er begreift etwas, das sie nicht begreifen: Dass Jesus sich mit jeder Heilung, die sie erlebt haben, die Krankheit selbst aufgeladen hat. Sie sehen nicht, was da auf seinen Schultern längst liegt: Die Schuld des Zachäus, der seine Mitmenschen ausgenommen hat. Die Schuld der Ehebrecherin, die sie zu ihm gebracht haben. Die Krankheit des Gelähmten, den seine Freunde durchs Dach runtergelassen haben. Und nun auch die Dunkelheit, in der dieser Mann bisher gelebt hat.
Dazu ist Jesus gekommen, dass er das alles auf sich nimmt. Deshalb muss er nach Jerusalem, deshalb muss all das geschehen, was er gerade gesagt hat. Deshalb geht er ohne Hilfe in das hinein, was man ihm antun wird. Weil er unsere Hilflosigkeit zu seiner macht. Weil dieses ganze Elend ans Kreuz muss.
Die Jünger haben’s an dem Tag noch nicht begriffen. Deshalb sollten sie’s wohl mitkriegen, dass der Blinde so viel mehr sieht als sie, und glaubt, was sie nicht fassen können. Damit sie hinterher, wenn sie selbst bis an die Enden der Erde geschickt werden, anderen dieses Bild einprägen: Gottes Sohn muss leiden, damit er unser Retter wird. Aber mit dem Unrechtsprozess und der grausamen Hinrichtung gewinnt nicht das Böse. Sondern es wird von ihm dahin getragen, wo es gerichtet und verurteilt wird und bleibt: am Kreuz.
Und dass dieses Bild nun richtigherum ist, das wird an dem siebten und letzten klar, das er aufzählt: am dritten Tag wird er vom Tod aufstehen. Da handelt er. Das ist der Sieg.
Darum sage ihm deine Not. Deine Krankheit, deinen Zweifel, deine Sorge und Angst, deine Schuld. Und das, was nur du alleine weißt. Dazu hast du in der Beichte gleich Gelegenheit. Lege ihm auf die Schultern, was du nicht mehr tragen kannst. Am Kreuz führt für ihn kein Weg vorbei. Sein Weg dahin aber ist der, auf dem wir gerettet werden.
Und dann schließt es auch für uns so, wie Lukas die beiden Abschnitte: “Der Mann wurde sehend und folgte Jesus nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.” Sehend werden heißt, den Durchbilck erhalten und entdecken, was uns durch Jesu Tod am Kreuz gegeben ist und ihn dafür Loben. Auf dass wir sehend werden. AMEN.
Pastor Florian Reinecke, Februar 2020